Das Was­ser

„Die Haupt­sa­che ist wahr­schein­lich das Was­ser.“ Der Satz fin­det sich in einem Essay des Schrift­stel­lers Mar­tin Wal­ser, ver­öf­fent­licht in MERIAN, XX. Jahr­gang, unter dem Titel „Hei­mat­kunde“. Am Was­ser kommt kei­ner vor­bei. Dafür ist er zu gewal­tig, der dritt­größte See West­eu­ro­pas, das Schwä­bi­sche Meer. 571,5 Qua­drat­ki­lo­me­ter. 80 Meter tief im Schnitt. 670.000 Kubik­me­ter wer­den ihm täg­lich ent­nom­men und ver­sor­gen über ein 1.500 Kilo­me­ter lan­ges Lei­tungs­netz 5 Mil­lio­nen Men­schen mit Trinkwasser.

Alles nur Zah­len, Fak­ten. Darum ging es den Malern auf der Höri nicht. Otto Dix. Max Acker­mann. Erich Heckel. Darum ging es den Poe­ten nicht. Her­mann Hesse, der die Höri für Künst­ler ent­deckte. Und schon gar nicht Wal­ser, auch wenn er, der in Was­ser­burg am Boden­see gebo­ren wurde, erzählt, dass er in der Schule den Raum­ge­halt des Boden­sees berech­nen musste. „Unser Leh­rer sagte, die Bevöl­ke­rung ganz Euro­pas hätte im See Platz. Auf so was kommt ein Leh­rer, wenn er in der Nähe des Was­sers lebt und ein Bei­spiel braucht.“

Die Haupt­sa­che ist, was das Was­ser mit den Men­schen macht, wie es sich ins Den­ken und Füh­len drängt. „Die­ses ste­hende Was­ser“, schreibt Wal­ser, „das bewegt ist nur in sich selbst. Wegen Tem­pe­ra­tur­aus­tausch und Besor­gung des Sau­er­stoff­haus­halts. Keine rei­ßende Rich­tung. Man kommt nicht auf so weit­rei­chende Gedan­ken wie die Leute, die an Flüs­sen woh­nen. Über die Zeit, zum Bei­spiel, denkt man hier weni­ger bild­haft. Hier schwimmt alles so lange hin und zurück, bis es strandet.“

Es sei doch erstaun­lich, so Wal­ser, wie viele Men­schen, die keine Lyri­ker seien, Gedichte geschrie­ben hät­ten über den Boden­see. Viel­leicht über den Flü­gel­schlag einer See­schwalbe, das Schnat­tern einer Ente. Über eine Böe, die mor­gens die Ober­flä­che kräu­selt. Oder den sanf­ten, fried­vol­len Rhyth­mus der Wel­len, die ans Ufer schla­gen. Da sind die Geheim­nisse einige sei­ner 35 Fisch­ar­ten. Die Trü­sche etwa. Sehr schmack­haft, weni­ger ansehn­lich, eher an einen Sala­man­der erin­nernd. Den Wels, den ewi­gen Dun­kel­mann. Was auf der deut­schen Seite Kret­zer heißt, wird auf der Schwei­zer Seite Egli genannt. Im Bio­lo­gie­buch taucht er als Fluss­barsch auf.

Warum einer wie Wal­ser, der über­all hätte hin­ge­hen und arbei­ten kön­nen, „Mos­kau­pa­ris­ne­wyork“, wie er den Rest der Welt umschreibt, der statt­des­sen die Legende vom „Rei­ter über dem Boden­see“ ein­ge­floch­ten hat in sei­nen Roman „Ein flie­hen­des Pferd“, warum also Wal­ser nicht los­ge­kom­men ist vom Boden­see? Wegen des strah­len­den Lichts im Som­mer, wenn der See mit­un­ter leuch­tet wie geschmol­ze­nes Blei hin­ter einem Gold­schleier? Wegen des Nebels im Win­ter, der alles zer­flie­ßen lässt wie in einem samt­wei­chen Märchen?

In „Hei­mat­kunde“ ver­sucht Wal­ser eine Ant­wort. „Wahr­schein­lich bleibt man doch des Was­sers wegen. Aber warum bleibt man des Was­sers wegen? Der letzte noch glaub­wür­dige Grund ist das Was­ser selbst. Man bleibt in der Nähe des Was­sers, weil man in der Nähe des Was­sers bleibt.“